Langbiografie

Hans Rauschnabel

Kreisleiter Hans Rauschnabel (1895-1957)

Auch der Nachfolger von Helmut Baumert als Kreisleiter in Tübingen, Hans Rauschnabel, gehörte zur Riege der "alten Kämpfer", die vom Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr1 und seiner Entourage protegiert wurden.

Der am 22. Januar 1895 in Stuttgart geborene Hans Rauschnabel war Volksschullehrer und im Ersten Weltkrieg Soldat.2 Seit 1928 war er an der Volksschule Schnait im Remstal bis zur Beurlaubung 1934 tätig. Bereits bei der Reichstagswahl im September 1930 stimmte er für die NSDAP und trat im Oktober 1930 in den Nationalsozialistischen
Lehrerbund ein.3 Ein halbes Jahr später wurde er am 1. April 1931 Mitglied der NSDAP. Der gewandte Redner übernahm 1931 die Schnaiter Ortsgruppe der NSDAP und wurde im Herbst 1932 von Murr zum Kreisleiter im Oberamt Schorndorf ernannt. Über sein Wirken von 1932 bis 1937 ist aus den Akten nur wenig bekannt. Rauschnabel war verheiratet und kinderlos. Nach seinem Austritt aus der evangelischen Kirche im Jahr 1939 gab Rauschnabel, wie viele andere Nationalsozialisten, bei der Religion "gottgläubig" an. Mit der Kreisreform und der Auflösung der Oberämter 1937 wurde der ehrenamtliche Kreisleiter von Schorndorf Hans Rauschnabel von Murr zum hauptamtlichen Kreisleiter von Tübingen ernannt. Er genoss in der Gauleitung Ansehen, was ihn zum Oberbereichsleiter und schließlich 1944 zudem zum stellvertretenden bzw. kommissarischen Gaupropagandaleiter in Württemberg-Hohenzollern machte.

Rauschnabel residierte ab Juni 1937 mit seinem Stab in der Wilhelmstraße 24 in Sichtweite des zentralen Universitätsgebäudes Neue Aula. Im Vergleich zu seinem Vorgänger Baumert zeigte Rauschnabel eine stärkere Präsenz in Tübingen und konnte dadurch die ohnehin starken Macht- und Kontrollfunktionen eines Kreisleiters weiter ausbauen. Er verdiente von 1937 bis 1939 monatlich 350 RM und von 1939 bis 1945 600 RM, hinzu kam eine monatliche Aufwandsentschädigung von 250 RM.4

Von der Propaganda zur Tat

Der neue Kreisleiter rief nicht nur regelmäßig zu Spenden für das Winterhilfswerk und zu Tagen der "Nationalen Solidarität"5 auf, ein großer Teil seiner Tätigkeit war Propagandaarbeit: In einem Rechtfertigungsschreiben an die Spruchkammer im Februar 1951 bagatellisierte er seine Rolle als Propagandaredner: "Als früherer Kreisleiter der NSDAP […] habe ich Jahr für Jahr innerhalb des mir zugewiesenen Kreisbereichs bei öffentlichen Kundgebungen, an Festtagen der Partei (30. Jan., 1. Mai, 1. Oktober ) und bei Informationstagungen der Parteiorganisation, außerdem als 'Beauftragter der Partei' bei Bürgermeistereinsetzungen, Gemeinderatsberufungen, Schulhauseinweihungen u.Ä. gesprochen. Als stv. Bundesführer des 'Schwäbischen Sängerbundes' lag mir ob, bei Kreisliederfesten, Vereinsjubiläen und Sängerehrungen […] zu sprechen. Ebenso habe ich
im Sonderauftrag des früheren Gauleiters (Murr bei Dichter-Ehrungen (Isolde Kurz, Wilhelm Schussen) die Festreden gehalten".6 Rauschnabel, der auch dichtete, wollte sich aber an die Inhalte seiner zahlreichen Reden nicht mehr erinnern. Einzelne Zeitgenossen bezeichneten Hans Rauschnabel als gesellig, weinselig und musisch und blendeten in den Erinnerungen dessen politisches Handeln in Wort und Tat überwiegend aus.7

Wie scharf jedoch seine Rhetorik war, zeigt eine kleine Auswahl aus dem lokalen NS-Presseblatt Tübinger Chronik: Seine erste Rede Ende Oktober 1937 im vollbesetzten Schillersaal des Museums an die Partei-und Volksgenossen befasste sich mit "Adolf Hitler und seiner Bewegung".8 Er sprach vom angeblich "verderblichen Einfluß" des Judentums auf die Volksgemeinschaft und lobte die Nürnberger Rassegesetze gegen die Juden sowie das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Der Kreisleiter beschwor den "erbadeligen deutschen Menschen", dem die Rassenpflege im "neuen Deutschland" dienen solle.

Anfang April 1938 agitierte er vor Gastwirten in Rottenburg für die Volksabstimmung zum Anschluss Österreichs an das "Reich", das der Führer allein durch sein Tat geschaffen hätte: Sein Beispiel verpflichte - so Rauschnabel weiter - jeden deutschen Volksgenossen zur positiven Mitarbeit am großen Aufbauwerk und das bedeute auch ein klares Bekenntnis zum Führer bei der Volksabstimmung.9

Während der Kampagne zum gewaltsamen Anschluss des Sudetenlands und seiner Abtrennung von der Tschechoslowakei im Herbst 1938 an das nationalsozialistische Deutschland kam es auch in Tübingen zu Kundgebungen der NSDAP. Unter großer Beteiligung der Bevölkerung und der Parteiformationen fand am 26. September 1938 eine vom Kreispropagandaleiter Alfred Göhner organisierte Kundgebung statt, die vor der im Rundfunk übertragenen Hitler-Rede stattfand. Dabei hetzte Rauschnabel nur wenige Wochen vor dem Novemberpogrom auf dem Marktplatz gegen das "jüdische Weltfreimaurertum", das sich gegen die Einigung eines "blutsverwandtes Volkes" stemmen würde.10 Alle müssten sich dem Befehl des Führers unterordnen, der die "Heimführung der Ostmark ins Reich" betreiben würde. Seine Führergläubigkeit kehrte Rauschnabel auch bei vielen anderen Gelegenheiten hervor.

Brandstiftung und Ausschreitungen

Dass Rauschnabel es nicht bei radikalen Verbalattacken auf das Judentum beließ, zeigte sein tatkräftiger Einsatz in der reichsweiten Pogromnacht.11 Er setzte in der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 nach dem Anruf der Gauleitung aus Stuttgart, dass alle Synagogen zu zerstören und anzuzünden seien, sofort alle Hebel in Bewegung. Zuvor hatten vor Mitternacht unbekannte SS- und SA-Männer die Synagoge in der Gartenstraße bereits aufgebrochen, verwüstet und die Thora-Rolle in den Neckar geworfen. Nachdem sich der Kreisleiter über die Richtigkeit des Befehls durch Rückruf überzeugt hatte, betrachtete er die Brandstiftung als völlig legitime Aktion gegen die Juden.12 Auf der Fahrt in die Gartenstraße griff er unterwegs drei heimkehrende Parteifunktionäre (Christian Katz, Eugen Lutz, August Schneider auf, die die bereits geschändete Synagoge in Brand setzen sollten. Die Feuerwehr hatte laut Rauschnabels Befehl nur die Nachbarhäuser vor dem Übergriff des Feuers zu schützen. Angeleitet von Rauschnabel gelang den drei Parteiakteuren nach zwei Stunden gegen vier Uhr morgens das kriminelle Brandwerk. Das Gotteshaus brannte bis auf die Grundmauern nieder.

Auch bei den gewaltsamen Aktionen gegen den katholischen Bischof Johannes Baptista Sproll im Juli 1938 spielte Kreisleiter Rauschnabel eine unrühmliche Rolle.13 Der Bischof in Rottenburg hatte seine Abstimmung zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im April 1938 demonstrativ verweigert. Darauf inszenierte die von der Gauleitung angewiesene NSDAP und SA aus Tübingen, Balingen, Rottweil und Reutlingen im Juli Ausschreitungen gegen den Bischofssitz, die vom Kreispropagandachef Alfred Göhner und dem Gaugeschäftsführer Helmut Baumert vorbereitet und vom Kreisleiter Rauschnabel geleitet wurden. Ziel der Gau- und Kreisleitung war die Vertreibung von Sproll aus Rottenburg. Mit Rauschnabel an der Spitze drangen die Täter in das Bischofspalais ein und verwüsteten die Einrichtung. Danach gab Rauschnabel den Abmarschbefehl. Der Bischof musste im Juli 1938 seinen Amtssitz bis 1945 verlassen.14 Der Untersuchungsausschuss des Staatskommissariats für politische Säuberung für das Land Württemberg-Hohenzollern wertete – wie auch im Fall der Synagogenbrandstiftung – die maßgebliche Beteiligung Rauschnabels an den Gewaltaktionen in Rottenburg als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".15

Hinzu kam ein in der Spruchkammerakte überlieferter Fall von Willkür während des Krieges, weil Kreisleiter Rauschnabel mehrfach die Verhaftung von Karl Kusterer aus Tübingen durch die Gestapo betrieben hatte.16 Aufgrund von privaten Mietstreitigkeiten mußte sich Rauschnabel wiederholt mit der lästigen Angelegenheit befassen. Eine einflußreiche Nachbarin und angesehene Arztfrau hatte sich über das Ehepaar Kusterer bei örtlichen NS-Funktionären beschwert und es denunziert. Zunächst drohte Rauschnabel mit der Kündigung des Wohnverhältnisses. Nach weiteren Beschwerden wurde schließlich das Ehepaar zur Disziplinierung im März 1942 für drei Wochen bzw. für zwei Wochen durch die Gestapo inhaftiert, danach folgte eine dreimonatige KZ-Haft für Karl Kusterer von Dezember 1942 bis März 1943. Kurz vor Kriegsende am 18. April 1945 veranlasste Rauschnabel bei der Gestapo erneut die Festnahme von Kusterer, der dann in Reutlingen - versehentlich oder beabsichtigt ist unklar - in einem Kugelhagel zwischen den französischen Truppen und der Wehrmacht getötet wurde. Warum ließ Rauschnabel Karl Kusterer kurz vor Kriegsende verhaften? Die Witwe Luise Kusterer erhob im Spruchkammerverfahren schwere Vorwürfe gegen den Anstifter Rauschnabel und die Spruchkammer wertete diese "willkürliche Verfolgung" als belastendes Argument.

Das Silchergedenken als Instrument nationalsozialistischer Kulturpolitik

Frühzeitig verknüpfte Rauschnabel seine musikalische Leiden- und Kennerschaft für den konservativen Volksliedsmusiker, Komponisten und ersten Tübinger Universitätsmusikdirektor Friedrich Silcher (1789-1860) mit gezielter Kulturpropaganda für den Nationalsozialismus. In seinem Heimatort Schnait hatte der NSDAP Kreisleiter Rauschnabel von Schorndorf und zugleich stellvertretender Vorsitzender des Schwäbischen Sängerbunds bereits ein Silcher-Museum eingerichtet. Als er im Sommer 1937 zum Kreisleiter des erweiterten Kreises Tübingen (u.a. Rottenburg) aufstieg, sah er in der engagierten Pflege des Silcherkults für NS-Staat und Volk eine zentrale Aufgabe. Solche ideologisierten Kulturveranstaltungen, bei denen die NS-Volksgemeinschaft inszeniert und zelebriert wurde, sprachen ein breites bürgerliches Publikum an und festigten den Zusammenhalt.

Die Tübinger Gesangsvereine ließen sich zu öffentlichen Stiftungsfesten bereitwillig vereinnahmen.17 Bereits 1938 plante der Schwäbische Sängerbund auf Initiative von Rauschnabel ein öffentlichen Singfest zum 150. Geburtstags Silchers in Stuttgart und Tübingen im Juni 1939. Der Kreisleiter sandte am 14. Januar 1939 ein Schreiben an den Tübinger Oberbürgermeister Adolf Scheef, in dem er ein neues Denkmal für Silcher auf der Platanenallee anstelle des bisherigen "undeutschen" Monuments eines Obelisken für erforderlich hielt und ein breites Aktionsbündnis unter seiner Leitung von Vertretern der Partei, württembergischen Kultministerium, Stadt und Universität Tübingen, Sängerbund, Silcherbund und Bürgerschaft vorschlug.18 Rauschnabel erwartete von der Stadt Engagement an "vorderster Stelle". Oberbürgermeister Adolf Scheef, der seit 1933 die Ansagen und Ansprüche der lokalen NSDAP in der Regel bereitwillig erfüllte und das Konzept von Tübingen als Parteistadt verfolgte,19 griff sofort zum Telefonhörer und sicherte Rauschnabel die volle städtische Unterstützung zu. In der Gemeinderatssitzung im März 1939 betonte Scheef die "selbstverständlichen Pflicht der Stadt" zur Silcherehrung und seine Sympathie: "Der Gedanke der Schaffung eines neuen, den heutigen Anschauungen entsprechenden würdigen Denkmals gefalle ihm sehr gut".20 Im
Einklang mit dem Kreisleiter solle laut Scheef am neuen Silcherdenkmal auf der Platanenallee auch ein zentraler Feierplatz entstehen. Im Gemeinderat stellte der Kreisleiter ausführlich seine Pläne vor, die auch ein Preisausschreiben für das Silcher-Monument vorsahen. Rauschnabel trommelte auf allen Ebenen über den Aktionsausschuss, der Presse und Verbandspublizistik21 für das Projekt. So erschien im Vorfeld der großen Silcherfeier ein Artikel mit dem Titel "Friedrich Silchers Bedeutung für den deutschen Männergesang und für das deutsche Lied". Rauschnabel hob die Bedeutung Silchers und sein deutsch-nationales und männlich geprägtes Liedgut für den Nationalsozialismus in Abgrenzung zu undeutscher internationaler Politik und der früheren liberalistische Zeit hervor: "Die Vereinigung und die Kameradschaft des Sängers verbindet er immer mit dem Gedanken an völkische Ziele und an die Liebe zur Heimat und zum Vaterlande."22

Am 25. Juni 1939 war es soweit. Im Rahmen der großen Silcher-Gedächtnisfeier mit zwei Hauptveranstaltungen u.a. im Festsaal der Universität, Kranzniederlegungen an Silchers Grab auf dem Stadtfriedhof, den Gesängen der Chöre mit Silchers Volksliedern wurde in Anwesenheit der Stuttgarter Politprominenz wie Gauleiter Murr und dem Innenminister Jonathan Schmid sowie Nachkommen von Silcher der Grundstein für das Silcherdenkmal gelegt.23 Unter großer Beteiligung der Einwohnerschaft und bei Hakenkreuzbeflaggung in der ganzen Stadt, sprach der Nachfolger des kurz zuvor pensionierten Oberbürgermeisters Scheef, der NSDAP-Bürgermeister Dr. Ernst Weinmann, den Dank an Rauschnabel für dessen "echt nationalsozialistischen Einsatz" bei der Schaffung des geplanten Denkmals aus, das Ausdruck des Wirkens der deutschen Seele werden solle. Danach sprachen der Rektor der Universität, Hermann Hoffmann, von der Ehrenstätte deutschen Sängertums und Innenminister Jonathan Schmid hob im Blick auf den kommenden Krieg die Bedeutung des Silcherdenkmals als Kraftquelle deutschen Volkstums in Friedens- und Kriegszeiten hervor. Nach Weihe und Grundsteinlegung huldigte Kreisleiter Rauschnabel den Führer Adolf Hitler, der laut Tübinger Chronik "nicht bloss der politische Führer des deutsches Volkes ist, sondern auch der Förderer der kulturellen Werte unseres Volkes und in ihnen die Werte des deutschen Liedes. Dreifach gilt dem Führer ein freudiges, dankendes‚ Sieg Heil".

Unter Vorsitz des Kreisleiters empfahl im Juni 1939 das Preisgericht einstimmig den zweiten Wettbewerbssieger, den Stuttgarter Bildhauer Julius Frick.24 Dieser Entwurf entspreche am weitesten dem Wesen des Komponisten und stehe im Einklang mit der NS-Ästhetik und völkischen Vorstellungen, weil bei der Figur Silchers dessen geniehafter volkstümlicher Habitus zum Ausdruck käme, da, aus dessen Rücken Soldaten mit Gewehr in den Krieg aufbrechen. Außerdem passe dieses Modell am besten zum geplanten Aufmarschplatz. Nach der Errichtung des Silcher-Denkmals im Mai 1941 wurde eine kriegsverherrlichende Einweihungsfeier geplant, zu der es jedoch nicht mehr kam.25 Die hohen Kosten für das Denkmal in Höhe von 60.000 RM übernahmen der Schwäbische Sängerbund und die Stadt Tübingen, während sich die NSDAP, die Universität und das Land – entgegen der Abmachungen - nicht beteiligten.26

Krieg, Propagandakrieg und Kriegsende

Der nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungskrieg ab September 1939 stellte auch Tübingen und die Kreisleitung vor neue Aufgaben. Wenige Tage vor dem Überfall der deutschen Truppen auf Polen rief Rauschnabel die Volksgenossen zum Kauf von Volksgasmasken auf.27

Zwar zeigte sich in Tübingen anfänglich nicht die euphorische Kriegsbegeisterung wie 1914, doch die Erfolge in den "Blitzkriegen" von 1939 bis 1941 über Polen, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Griechenland und Jugoslawien sowie der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 lösten auch in der Universitätsstadt immer neue Wellen der Begeisterung aus.28 Andererseits war die Versorgungssituation eingeschränkt und funktioniert nicht immer; erhebliche Mehrarbeit und verschärfte Strafen schon bei kleinen Delikten prägten den Kriegsalttag und beeinflussten auch die Stimmungslage in der Bevölkerung.29 Der Kreisleiter schwankte daher zwischen propagandistischen Durchhalteparolen und Verständnis für besorgte Volksgenossen in Detailfragen wie Unklarheiten und Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Lebensmitteln.30

In Tübingen mussten 1.700 zivile Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene für die NS-Kriegswirtschaft schuften.31 Auch die Kreisleitung unter Rauschnabel war mit der Koordination, Überwachung und Kontrolle beschäftigt. Zwar konnte eine direkte Beteiligung von Rauschnabel an der Hinrichtung eines polnischen Zwangsarbeiters in Kusterdingen nicht nachgewiesen werden,32 was die Rolle Rauschnabels als Parteiführer bei der lokalen NS-Sklavenarbeit in der Kommune, der Universität, den Fabriken und der Landwirtschaft jedoch nicht schmälert.

Rauschnabel besuchte häufig die Tübinger Rüstungsunternehmen, um die Belegschaft für die Kriegsanstrengungen und nationalsozialistischen Kriegsziele zu mobilisieren. Im größten Rüstungsbetrieb, den Himmelwerken, fand Mitte 1940 ein Betriebsappell mit Rauschnabel statt, in dem er den Sieg über England als einen "Sieg des deutschen Sozialismus“ herbeiredete. Mit dem antisemitischen Codewort der "Plutokratie" (Geldherrschaft der reichen Juden) bezichtigte er die englischen "Plutokraten", die um ihre Pfründe fürchten würden, der Kriegstreiberei, die Deutschland schon zwei Kriege aufgezwungen hätten. In pathetischen Worten bemühte er die Vorsehung Hölderlins eines neuen strahlenden Jahrhunderts, als "das Jahrhundert der Freiheit unter den Fahnen Adolf Hitlers".33

Ende November 1940 sprach der Kreisleiter im vollbesetzten Gasthaus zum Grünen Baum in Nehren über die Grundpfeiler des neuen germanischen Reichs, das von England, dem "personifizierten Bösen", bedroht sei. Im Schicksalskampf hätte sich Hitler-Deutschland gegen das vom unversöhnlichen Hass getriebene "plutokratische" England aufgelehnt, das alle Länder unter die Ausbeutung des jüdischen Weltkapitals stelle wolle, um die Welt zu beherrschen. Am Ende dieses Kampfes müsse der "Endsieg" gegen England stehen, um dem "deutschen Recht, deutschem Glauben und deutschem Willen" im stolzen neuen germanischen Reich wieder Geltung zu verschaffen.34

Nach der Niederlage von Stalingrad rief der NS-Staat im Februar 1943 den "totalen Krieg" aus. Auch wegen wachsender negativer Stimmung – auch in Tübingen – rührte Rauschnabel weiter die Propagandatrommel. Da sich die Material- und Personalknappheit seit 1943 auch in Tübingen verschärfte,35 griff die Arbeitspflicht und Meldepflichtverordnungen immer stärker um sich. 1944 versuchte die Kreisleitung die letzten Arbeitsreserven zu mobilisieren, in dem die Frauen von städtischen Beamten und Angestellten zum Ehrendienst von zwölf Stunden pro Woche herangezogen werden sollten. Obwohl der Dienst freiwillig war, übte Rauschnabel auf die Frauen großen moralischen und sozialen Druck aus, in dem er ihnen vorwarf, dass sie sich außerhalb der "Kampfgemeinschaft der Nation" stellen und ehrlos handeln würden.36 In völliger Unkenntnis der Kriegslage glaubte Rauschnabel, dass die Frauen noch freie Zeit hätten und beschwerte sich beim Bürgermeister, dass sich viele Frauen mit nichtigen Begründungen und medizinischen Attesten dem Freiwilligendienst entziehen würden.37 Daraufhin gab Bürgermeister Alfred Kercher (Vertreter des abwesenden Oberbürgermeisters Ernst Weinmann, der in Jugoslawien an Kriegsverbrechen maßgeblich beteiligt war) per Dienstanweisung die Anforderung für den "Freiwiligendienst" an die städtische Belegschaft weiter.38 Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen. Auch die Wirkungen der NS-Propaganda in der Tübinger Chronik und NS-Versammlungen, Aufmärschen und Straßensammlungen waren auf Teile der Bevölkerung 1944/45 gedämpft, wenngleich es keine Abkehr von der NS-Volksgemeinschaft oder gar zu Widerständigkeiten gekommen wäre.39

Bei Kriegsende stand der schlecht ausgerüstete Volkssturm unter Leitung von Rauschnabel zur Verteidigung Tübingens bereit. Rauschnabel drohte den "Volksgenossen" mit dem Standgericht, wer Gerüchte verbreite: "Hetzer und Wühler werden unschädlich gemacht", hieß es in seinem Aufruf in der Tübinger Chronik am 5. April 1945.40 Rauschnabel, der Tübingen gegen die Offensive der französischen Truppen unbedingt verteidigen wollte, gab nach heftigen Debatten mit dem Standortarzt Theodor Dobler auf. Dobler gelang es, Tübingen vor der Zerstörung zu bewahren.41 Der Kreisleiter floh mit seinem Stab am frühen Morgen des 19. April 1945, dem Kriegsende in Tübingen durch die Besetzung französischen Truppen, in Richtung Schwäbische Alb.

Untergetaucht, milde Behandlung und Rückkehr in den Lehrerberuf

Rauschnabel gehörte zu den ganz wenigen württembergischen NSDAP-Kreisleitern, die am Ende des Krieges und des NS-Regimes im Mai 1945 längerfristig untertauchten.42 Er lebte unter falschen Namen (Heinz Renz) als landwirtschaftlicher Arbeiter. Zum günstigen Zeitpunkt, als die Entnazifizierung im postnazistischen Deutschland nur noch einer großen "Mitläuferfabrik" glich, tauchte er im März 1949 anlässlich des Besuches bei seiner Frau in Tübingen wieder auf und stellte sich den französischen Behörden. Er wurde sofort verhaftet. Die Staatsanwaltschaft Tübingen hatte am 29. April 1949 Anklage gegen den NS-Täter wegen der Anstiftung zur gemeinschaftlichen Brandstiftung und wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne des alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 10 erhoben. Das Schwurgericht Tübingen verurteilte Rauschnabel am 21. Mai 1949 wegen der Brandstifung des jüdischen Gotteshauses zu zweieinhalb Jahre Haftstrafe, von der er wegen einer Amnestie lediglich 18 Monate im Rottenburger Gefängnis verbrachte.

Aufgrund des späten Auftauchens kam er im Gegensatz zu anderen Kreisleitern, die bereits 1945 verhaftet worden sind, glimpflich davon.43 Im postnazistischen Klima des Verdrängens der NS-Verbrechen der 1950er Jahre konnte Rauschnabel erfolgreich auf Milde, große Nachsicht und viele Fürsprecher in Tübingen und Stuttgart hoffen. Die Tübinger Spruchkammer stufte im Februar 1951 Rauschnabel zwar als Belasteten ein und verhängte bis Ende 1953 ein befristetes Verbot politischer Betätigung, beruflicher Betätigung als Lehrer und anderer intellektueller Berufe und er verlor vorübergehend die Pensionsansprüche.44 Eine Internierungshaft – wie in den ersten Nachkriegsjahren bei exponierten NS-Funktionären die Regel – blieb ihm jedoch erspart. Im Verfahren räumte der frühere Kreisleiter seine offensichtlichen Taten zwar ein, zeigte jedoch kaum Reue. Nur einen Monat später lockerte auf Antrag Rauschnabels bereits die gleiche Spruchkammer die beruflichen Sanktionen, damit er sich eine "neue Existenzgrundlage" aufbauen konnte.45 In den Jahren 1954 und 1955 unterstützten zahlreiche Tübinger Politiker wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid46 und die Parteien von CDU und FDP47 das intensive Bemühen von Rauschnabel um Rehabilitation zur Wiedereinstellung als Lehrer. Im Tübinger Gemeinderat machte sich am 9. Mai 1955 der NS-belastete Oberbürgermeister Hans Gmelin (parteilos) und die Mehrheit der Stadträte dafür stark, dass Rauschnabel als Lehrer außerhalb des Kreises Tübinger wieder tätig werden durfte.48 Bei so viel Verständnis für NS-Täter und allseitiger Fürsprache war die Rückkehr in den Schuldienst für die Kultusverwaltung in Baden-Württemberg nur noch eine Formalie. Nach Gnadengesuchen und Fürsprachen konnte Rauschschnabel die Folgen der Zuchthausstrafe und der Spruchkammerbescheide erfolgreich abstreifen. Der gelernte Volksschullehrer durfte vom 10. April 1956 bis zu seinem Tod am 20. Oktober 1957 als angestellter Lehrer an der Volksschule Beilstein (Kreis Heilbronn) wieder junge Menschen unterrichten.49 Damit steht die Biografie des früheren Kreisleiters, der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" begangen hatte, exemplarisch für die weitverbreitete personelle Kontinuität und das geistig-politische Klima in der bundesdeutschen Nachkriegszeit, die NS-Verbrecher entlastete und gesellschaftlich integrierte.50

Einzelnachweise

Mehr
  1. Scholtyseck 1999, S. 477-502.
  2. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Bescheid der Spruchkammer des Staatskommissariats für die politische Säuberung des Landes Württemberg-Hohenzollern vom 8.2.1951. Die weiteren Informationen, wenn nicht anderes angegeben ist, hieraus.
  3. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Schreiben des Staatskommissariats für die politische Säuberung an Bürgermeister von Schorrndorf vom 17.5.1950.
  4. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 6.7.1950.
  5. "Prüfstein des Gemeinsinns", in: Tübinger Chronik vom 4.12.1937.
  6. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Anlage 2 zum politischen Fragebogen des Hans Rauschnabel.
  7. SAT: Hermann Werner. Tübingen im Jahr 1945. Mit Zusätzen von Otto Bartels. Maschinenschriftliches Manuskript, S. 4f.
  8. "Adolf Hitler und seine Bewegung", in: Tübinger Chronik vom 29.10.1937.
  9. "Kreisleiter Rauschnabel vor den Wirten", in: Tübinger Chronik vom 8.4.1938.
  10. "Ganz Tübingen hörte den Führer", in: Tübinger Chronik vom 27.9.1938, dies und das folgende Zitat hieraus.
  11. Zum Ablauf der Pogromnacht und den nachfolgenden Verhaftungen siehe auch Schönhagen 1991, S. 293; Geschichtswerkstatt Tübingen 1995, S. 114 ff.
  12. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Spruchkammerbescheid vom 8.2.1951.
  13. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Sitzung des Unterssuchungsauschuss vom 6.7.1950.
  14. Burkard 2013.
  15. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Sitzung des Untersuchungsausschusses vom 6.7.1950.
  16. Ebd., Spruchkammerbescheid vom 8.2.1951, die weiteren Informationen hieraus.
  17. Schönhagen 1991, S.224.
  18. SAT: A 150/2404, Schreiben des Kreisleiters Rauschnabel an Oberbürgermeister Scheef vom 14.1.1939.
  19. Zur Rolle von Oberbürgermeister Adolf Scheef im Nationalsozialismus siehe Geschichtswerkstatt Tübingen 2012, S. 17-25.
  20. SAT: A 150/2404, Gemeinderatsprotokoll vom 13.3.1939.
  21. SAT: A 150/2404, "Tübinger Gedächtnisfeiern für den Altmeister des Deutschen Volksliedes Friedrich Silcher im Jahre der 150. Wiederkehr seines Geburtstags"
  22. SAT: A 150/2404, "Friedrich Silchers Bedeutung für den deutschen Männergesang und das deutsche Lied".
  23. "Die Tübinger Silcher-Gedächtnisfeier", in: Tübinger Chronik vom 28.6.1939.
  24. "Der Silcher-Denkmal-Wettbewerb entschieden", in: Tübinger Chronik vom 15.6.1939.
  25. "Die Vereinnahmung der Künste im Nationalsozialismus", in: Geschichtspfad zum Nationalsozialismus <tuebingen.de/rundgaenge> (letzter Zugriff: 31.10.2020).
  26. SAT: A 150/2404, Gemeinderatsprotokoll vom 14.10.1943.
  27. "Verkauf von Volksgasmasken", in: Tübinger Chronik vom 28.8.1939.
  28. Schönhagen 1991, S. 309f.
  29. Schönhagen 1991, S. 314 ff.
  30. Schönhagen 1991, S. 311f.
  31. "Zwangsarbeit in Stadt und Universität", in: Geschichtspfad zum Nationalsozialismus <tuebingen.de/rundgaenge> (letzter Zugriff: 20.11.2020).
  32. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Niedersschrift der Spruchkammer des Staatskommissariats für die politische Säuberung vom 8.2.1951.
  33. "Unser Sieg – der Sieg des deutschen Sozialismus", in: Tübinger Chronik vom 15.11.1940.
  34. "Kreisleiter Rauschnabel sprach in Nehren", in: Tübinger Chronik vom 30.11.1940.
  35. Schönhagen 1991, S. 363 ff.
  36. SAT: A 150/466, Schreiben der NSDAP-Kreisleitung Tübingen an Frau {...} Tübingen vom 21.8.1944; siehe auch Schönhagen 1991, S. 365f.
  37. SAT: A 150/466, Schreiben des NSDAP-Kreisleiters Rauschnabel an den Bürgermeister Kercher vom 21.8.1944.
  38. SAT: A 150/466, Der Oberbürgermeister an sämtliche Beamte und Angestellte vom 29.8.1944.
  39. SAT: Hermann Werner. Tübingen im Jahr 1945. Mit Zusätzen von Otto Bartels. Maschinenschriftliches Manuskript, S.
  40. "Vors Standgericht, wer Gerüchte weiterträgt", in: Tübinger Chronik vom 5.4.1945.
  41. Schönhagen 1991, 371f.
  42. Arbogast 1998, S. 242f.
  43. Arbogast 1998, S. 243.
  44. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Spruchkammerbescheid vom 8.2.1951.
  45. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Spruchkammerbescheid vom 15.3.1951.
  46. Arbogast 1998, S. 247.
  47. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2123/047, Schreiben der CDU-Ortsgruppe vom 16.3.1950, Schreiben der FDP/DVP-Landesleitung vom 1.3.1950.
  48. SAT: A 200/1133.
  49. Arbogast 1998, S. 245.
  50. Frei 1996.
  1. Arbeitskreis Geschichtspfad (Hg.), Geschichtspfad zum Nationalsozialismus <tuebingen.de/ns_geschichtspfad> (letzter Zugriff: 31.10.2020).

  2. Arbogast, Christine, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920-1960, München 1998.

  3. Benigna Schönhagen, Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1991.

  4. Burkard, Dominik, Johannes Baptista Sproll. Bischof im Widerstand, Stuttgart 2013.

  5. Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.

  6. Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.), Forschungsbericht: Zwangsweise ausgeschiedene Tübinger Stadträte 1933/1934 und deren Verhältnis bzw. Verbindung zum Nationalsozialismus, Tübingen 2012.

  7. Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.), Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, Stuttgart 1995.

  8. o.N., "Adolf Hitler und seine Bewegung", in: Tübinger Chronik vom 29.10.1937.

  9. o.N., "Der Silcher-Denkmal-Wettbewerb entschieden", in: Tübinger Chronik vom 15.6.1939.

  10. o.N., "Die Tübinger Silcher-Gedächtnisfeier", in: Tübinger Chronik vom 28.6.1939.

  11. o.N., "Ganz Tübingen hörte den Führer", in: Tübinger Chronik vom 27.9.1938.

  12. o.N., "Kreisleiter Rauschnabel sprach in Nehren", in: Tübinger Chronik vom 30.11.1940.

  13. o.N., "Kreisleiter Rauschnabel vor den Wirten", in: Tübinger Chronik vom 8.4.1938.

  14. o.N., "Prüfstein des Gemeinsinns", in: Tübinger Chronik vom 4.12.1937.

  15. o.N., "Unser Sieg – der Sieg des deutschen Sozialismus", in: Tübinger Chronik vom 15.11.1940.

  16. o.N., "Verkauf von Volksgasmasken", in: Tübinger Chronik vom 28.8.1939.

  17. o.N., "Vors Standgericht, wer Gerüchte weiterträgt", in: Tübinger Chronik vom 5.4.1945.

  18. Scholtyseck, Joachim, "'Der Mann aus dem Volk'. Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern", in: Kissener, Michael / Scholtyseck, Joachim (Hg.), Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1999, S. 477–502.

  1. Staatsarchiv Sigmaringen (StAS): Wü 13 T 2 (Staatskommissariat für die politische Säuberung) Nr. 2123/047. Rauschnabel, Hans Jakob Friedrich, Deckname: Renz, Heinz aus Stuttgart (Geburtsort); Rottenburg a. N.; Tübingen geb. am 22. Januar 1895 gest. am 20. Oktober 1957.

  2. Stadtarchiv Tübingen (SAT): 150/2404.

  3. Stadtarchiv Tübingen (SAT): 200/1133.

  4. Stadtarchiv Tübingen (SAT): A 150/466.

  5. Stadtarchiv Tübingen (SAT): Hermann Werner. Tübingen im Jahr 1945. Mit Zusätzen von Otto Bartels. Maschinenschriftl. Manuskript.