Langbiografie

Helmut Baumert

Helmut Baumert (1909-1980): Tübinger Kreisleiter und hoher NSDAP-Funktionär im Gau Württemberg-Hohenzollern

Der am 15. Juni 1909 in Osnabrück geborene Helmut Baumert gehörte zur späten Kriegsjugendgeneration, die den Ersten Weltkrieg an der Front nur aus Erzählungen kannte.1 Baumert hatte sich bereits als 15jähriger im Jahr 1924 der nationalsozialistischen Bewegung in Osnabrück in Westfalen angeschlossen und war von 1926 bis 1927 in der Hitlerjugend aktiv. Er wurde am 1. April 1928 frühes NSDAP-Mitglied.2 Nach Abschluss des Realgymnasiums absolvierte er von 1925 bis 1928 eine Buchhändlerlehre in Osnabrück. Nach seinem Umzug von Osnabrück nach Tübingen im Jahr 1928 war er zunächst Volontär bei der renommierten wissenschaftlichen antiquarischen Buchhandlung Heckenhauer am Holzmarkt und arbeitete dort bis 1933 als Buchhandelsgehilfe. Der junge völkische Radikale baute maßgeblich bis 1933 die Parteistrukturen in Tübingen auf und trug erheblich zur lokalen Etablierung des Nationalsozialismus vor und nach 1933 bei. Er war von 1932 bis 1937 ehrenamtlicher NSDAP-Kreisleiter. Baumert war seit August 1933 verheiratet und hatte fünf Kinder. Er wohnte aufgrund seiner hauptberuflichen Geschäftsführertätigkeit bei der NSDAP-Gauleitung Württemberg-Hohenzollern von 1933 bis 1945 in Stuttgart-Degerloch. Er trat mit seiner Frau im Jahr 1939 aus der evangelischen Kirche aus.

Rasche Parteikarriere in Tübingen

Als der 19jährige Buchhändler und Nationalsozialist Helmut Baumert Anfang 1928 im bürgerlichen Tübingen ankam, das ein starkes national-völkischen Milieu hatte, verkörperte er den idealtypischen Kämpfer der Partei: jung, aktivistisch, hochideologisiert, rücksichtslos und militant. Er kämpfte in seiner Freizeit mit allen Mitteln dafür, dass die Nationalsozialisten in der Universitätsstadt zur stärksten Kraft wurden. In der 1927 gegründeten NSDAP-Ortsgruppe tat sich Baumert 1928/29 beim eifrigen Flugblattverteilen und Plakatieren von antisemitischer Wahlpropaganda hervor.3 Gleich nach der Ankunft in Tübingen übernahm er die Leitung des SA-Sturms, der innerhalb eines Jahres seine Mitgliederzahl von 40 auf 96 steigerte,4 und er wurde 1930 Führer der NSDAP-Ortsgruppe Tübingen. Die Nationalsozialisten griffen nach den Zechabenden in der Gaststätte Steinlach in der Neckargasse schon vor 1933 die Firma des jüdischen Kaufmanns Gustav Lion in der Nachbarschaft an5 und lieferten sich blutige Schlägereien mit Kommunisten, Sozialdemokraten und Reichsbannerleuten. Während des Reichstagswahlkampfs im Juli 1932 leitete Baumert etwa 50 bis 60 Nazi-Störer und Schläger an, die eine SPD-Veranstaltung in Poltringen (heute Teilgemeinde von Ammerbuch) sprengten und Zuhörer mißhandelten.6 Baumert war auch am Auftritt des angesehenen Prinzen August Wilhelm von Preußen7 in Tübingen im Wahlkampf vom Juli 1932 maßgeblich beteiligt, der gezielt Werbung für die NSDAP bei 4.000 Zuhörerinnen und Zuhörern im Museum beim Tübingen Bürgertum betrieb.8

Sein Förderer und NSDAP-Gauleiter Wilhelm Murr übertrug dem entschlossenen Vorkämpfer Baumert im Oktober 1932 die NSDAP-Kreisleitung in Tübingen mit Sitz in der Uhlandstraße 5.9 Murr scharte loyale "alte Kämpfer" um sich, um seine exponierte Machtstellung in Württemberg zu sichern.10 Er berief Baumert 1933 zuerst zu seinem hauptamtlichen Mitarbeiter und machte ihn 1934 zum Geschäftsführer des NSDAP-Gaus Württemberg-Hohenzollern. Daher war er lediglich an ein bis zwei Tagen in der Woche als Kreisleiter in Tübingen aktiv und wurde ansonsten vom stellvertretenden Kreisleiter und Chef der NSDAP-Gemeinderatsfraktion, dem Zahnarzt Dr. Ernst Weinmann, vertreten.11 Baumerts Berufung in den engsten Kreis von Murr spiegelte auch die große politische Bedeutung wider, die die Gauleitung der Universitätsstadt im Nationalsozialismus beimaß. Baumert blieb daher bis Ende Mai 1937 ehrenamtlicher Kreisleiter in Tübingen. Sein Nachfolger wurde der Lehrer und Kreisleiter von Schorndorf Hans Rauschnabel. Von 1938 bis 1945 war Baumert Abgeordneter des gleichgeschalteten Reichstags, was eine reine repräsentative Funktion des Spitzenfunktionärs war. Kurze Zeit war er Wehrmachtssoldat und seit 1942 bei der Waffen-SS.12 Baumert wurde wegen seiner Schlüsselfunktion als regionaler Administrator und Organisator des NS-Regimes vom Kriegsdienst freigestellt. Er war ehrenamtlich bzw. nebenberuflich mit Aufwandsentschädigungen zudem im Wirtschaftssektor als Erster Vorsteher der Württembergischen Landessparkasse (1937-1942) in Stuttgart und von 1941 bis 1943 als Aufsichtsrat im größten Tübinger Rüstungsunternehmen, der Himmelwerk AG, tätig.13

Terror und Agitation in Tübingen

Der Kreisleiter Baumert setzte ab 1933 - mit weitreichenden Machtbefugnissen des Regimes ausgestattet - den brutalen Kampf gegen politische Gegner, Andersdenkende und Juden fort und verschärfte deren Verfolgung. Am 9. März 1933 besetzten die Nationalsozialisten und der deutschnationale Stahlhelm unter Führung Baumert das demokratisch regierte Tübinger Rathaus und hissten die Hakenkreuzfahne neben der Schwarz-Weiß-Roten-Fahne des Kaiserreichs.14 Im März 1933 wurde Baumert zu einem der beiden Stellvertreter des für die Gleichschaltung des öffentlichen Lebens und den NS-Terror zuständigen Unterkommissars Gottlob Berger ernannt.15

Wie alle Kreisleiter hatten laut der Historikerin Christine Arbogast auch die Kreisleiter Baumert und Rauschnabel weitreichende Machtbefugnisse als ranghöchste Funktionsträgers der Partei im Kreis, die weit über die NS-Organisationen hinausgingen: Der Kreisleiter bestimmte das staatliche Handeln der Behörden und von seinem Gutdünken konnte abhängen, ob Juden emigrieren konnten oder Gegner ins KZ gebracht oder ob nonkonforme Äußerungen verfolgt wurden.16 Der von 1946 bis 1948 amtierende Tübinger Oberbürgermeister Adolf Hartmeyer (SPD) wird im Urteil der Spruchkammer vom 4. März 1949 über Baumert zitiert: "Er war der Bevölkerung gegenüber sehr annaßend und rücksichtslos […] Als richtiger Schläger, Raudi [sic!] und Flegel lebt er in den Erinnerungen der antifaschistischen Kreise hier."17 So wurde der wichtigste SPD- und Gewerkschaftsführer und ehemalige Chef der SPD-Gemeinderatsfraktion in Tübingen, Otto Koch, permanent von Baumert schikaniert und dann 1937 zum Übertritt in die NSDAP gezwungen, wie seine Tochter im Interview 2011 berichtete.18 Otto Koch mußte nicht nur Schläge und Treibjagden der SA um den Marktbrunnen sowie ein vorübergehendes Berufsverbot erleiden. Baumert ließ ihn auch regelmäßig zur Demütigung im Rathaus antreten, um den Hitler-Gruß zu zeigen. Auch der abgesetzte kommunistische Stadtrat Hugo Benzinger war eines seiner bevorzugten Opfer, der im Frühjahr 1933 von der Politischen Polizei Tübingen und den von Baumert mit angeführten SA-Einheiten zunächst in das KZ Heuberg und dann Ende 1933 bis Mitte 1934 in das KZ Oberer Kuhberg in Ulm verschleppt wurde.19

Kreisleiter Baumert war der Vorsitzende des lokalen Ausschuss gegen die angebliche "jüdische Greuelhetze" im Zusammenhang des Kaufboykotts am 1. April 1933 gegen Geschäfte und Büros mit jüdischen Inhabern. Er agitierte: "Deutsche Volksgenossen: Juda hat Deutschland den Krieg erklärt. In den Zeitungen des Auslands hetzt das Weltjudentum gegen das erwachte Deutschland. Solche Gemeinheiten lassen wir uns nicht gefallen. Wir müssen Juda in die Knie zwingen […]. Wir werden mit aller Schärfe darüber wachen, dass der verhängte Boykott restlos durchgeführt wird."20

Baumert trieb die Verhaftungen der politischen Gegner, die Verfolgung der Juden und die Gleichschaltung des öffentlichen Lebens - beispielsweise des Gemeinderats und der Presse - voran. Allerdings stieß er in Tübingen auf keinen Widerstand, weil es häufig zur Selbstgleichschaltung anderer Institutionen kam. Baumert berief auch in Absprache mit Oberbürgermeister Adolf Scheef 1935 den neuen Gemeinderat als reines Akklamationsorgan bestehend aus Ratsherren anstelle eines politisch gewichtigen Gremiums ein.21

Neben Terror und Unterdrückung gehörte die Inszenierung der deutschen "Volksgemeinschaft" und die Ausschüttung sozialer Wohltaten für Volksgenossen zu Baumerts bevorzugten Aufgaben. Das System von Exklusion und Inklusion der "Volksgemeinschaft" funktionierte in Tübingen reibungslos. Die Kreisleitung und der Kreispropagandaleiter Alfred Göhner inszenierten die "Volksgemeinschaft“ zum Beispiel in zahlreichen Feiern wie dem 1. Mai, Erntedank-Umzügen und Heldengedenktagen. Marschkolonnen und Hakenkreuz-Fahnen prägten bei vielen Anlässen das Tübinger Stadtbild. Viele Menschen machten begeistert mit. Zugleich wurden alles "Artfremde" und Andersdenkende ausgegrenzt und verfolgt.

Baumert engagierte sich besonders für den Bau der Jugendherberge als Sitz der Hitlerjugend. Die Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Adolf Scheef spendierte großzügig das Grundstück am Neckarufer und gab einen hohen Baukostenzuschuss.22 Baumert setzte sich bei der Grundsteinlegung im Oktober 1935 publikumswirksam in Szene, indem er den Opfermut der deutschen Jugend im Weltkrieg und in der nationalsozialistischen Bewegung pries: Wer eine solche Jugend habe, werde den Kampf gegen den Bolschewismus gewinnen und als Volk nicht untergehen.23

Baumerts überlieferte Reden weisen ihn als Agitatoren aus. Bei der Maifeier 1937 wandte sich der Kreisleiter in harschen Worten an die arbeitenden Volksgenossen: "Wenn wir über unsere Grenzen schauen, so sehen wir überall den Wahnsinn der bolschewistischen Lehre." Der "jüdische Weltbolschewismus" zeige seine "negativen Segnungen" überall im Marxismus und jener "vielgepriesenen Demokratie". Baumert weiter: "Wir sind glücklich darüber, dass es uns gelungen ist, diese Weltpest von Deutschland fernzuhalten und sie auszurotten, Umso mehr bedeutet der heutige Tag Verpflichtung für jeden, sich vor sein Vaterland und seinen Führer zu stellen. Wir alle wollen dafür sorgen, daß diese Wahnsinnsideen jüdischer Bolschewisten nie mehr in unserem Lande Boden fassen werden."24

Baumert initiierte die Dietrich-Eckart-Siedlung in Derendingen - die heutige Gartenstadt - die 1937 für "kinderreiche, erbgesunde und arische Familien und für rassisch wertvolle und nationalpolitisch zuverlässige" Volksgenossen eingeweiht wurde.25 Oberbürgermeister Adolf Scheef dankte dem Kreisleiter im Juni 1937 zu seinem Abschied: "Diese lebhafte Arbeit auf dem Gebiet der Schaffung von Kleinwohnungen hat es uns ermöglicht [...] eine soziale Umwälzung in die Wege zu leiten, eine Arbeit, die auf Grund einer seinerzeitigen Aussprache mit Ihnen, Herr Kreisleiter, und wesentlich auf Ihre Anregung in Angriff genommen wurde."26 Baumert griff in seiner Abschiedsrede diese völkische Mustersiedlung heraus, der weiterhin ein "ein besonderes Augenmerk" gelten solle.27 Außerdem setzte er in der Gemeinderatssitzung den Professor für Rassenkunde, Dr. Wilhelm Gieseler, als Nachfolger eines ausscheidenden Ratsherrn und als Bindeglied zur Universität ein.

Gaugeschäftsführer in Stuttgart

Der junge Baumert rückte 1933 zum Mitarbeiter des Gauleiters und Reichsstatthalters Wilhelm Murr und 1934 zum Gaugeschäftsführer auf. Gauleitung und Geschäftsführung residierten in der Goethestraße 14 in Stuttgart, die Gauämter waren in der Innenstadt verteilt.28 Seine Aufgaben waren die Organisation, Koordinierung und Überwachung der Nazifizierung in Württemberg und Hohenzollern. Ohne die Zustimmung der NSDAP waren auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens keine Entscheidungen mehr möglich. Die Gauleitung mischte sich massiv in die Personal- und Sachpolitik der Verwaltungen und Körperschaften ein, sie setzte das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" durch, plante große Inszenierungen und Bauvorhaben und befahl und organisierte die gewaltsame Absetzung des Bischofs Sproll im Juli 1938 und die Reichspogromnacht im November 1938. Alle diese Vorgänge gingen über den Schreibtisch von Baumert in Stuttgart und er entschied und organisierte dabei viele Parteiaktionen selbständig. Daher ist er auch als Schreibtischtäter zu bewerten.

Der Gaugeschäftsführer bearbeitete beispielsweise im Jahr 1936 die politische Beurteilung von Beamten bei Beförderungen, um den Einfluss der NSDAP bei der Personalpolitik der Verwaltungen vollends durchzusetzen.29 Nur regimeloyale Beamte sollten zukünftig weiter Karriere machen dürfen. Offenbar hatte Baumert auch bei den Aufnahmen von neuen Mitgliedern in die NSDAP 1937 zum Teil das letzte Wort. So berichtet die Biografin Petra Weber von Carlo Schmid, dass dessen vom neuen Kreisleiter Hans Rauschnabel gestellter Mitgliedsantrag 1937 von Baumert abgelehnt wurde.30

Gerade als Gaugeschäftsführer war Baumert nachweisbar an zahlreichen Verbrechen beteiligt. So organisierte er die nationalsozialistischen Ausschreitung gegen den katholischen Rottenburger Bischof Johannes Baptista Sproll im Juli 1938, die zur Absetzung und Vertreibung des Bischofs führte. Im Rahmen der nationalsozialistischen Judenpolitik war er bei der Planung und Umsetzung der Novemberpogrome in der Stuttgarter Gauzentrale involviert. Baumert verhandelte und genehmigte im Zuge der Ghettoisierung der jüdischen Bürger im Jahr 1941 mit den Besitzern über die Einrichtung von jüdischen Zwangsaltenheimen in deren Schlossgebäuden sowie über die Miethöhe, wie beispielsweise in Dellmensingen bei Ulm, die die Reichsvereinigung der Juden an die Schlossbesitzer zahlen mußten.31 Eine treibende Kraft der zwangsweisen Umsiedlungsaktion von alten jüdischen Menschen in die Zwangsaltenheime Dellmensingen, Tigerfeld und Weißenstein war unter anderem der NS-Rüstungsunternehmer Ernst Heinkel. Dieser hatte am 27. Juni 1941 die Hirth-Motorenwerke in Stuttgart-Zuffenhausen übernommen und suchte für 80 Rüstungsarbeiter und deren Familien aus seinem Rostocker Rüstungswerk Wohnungen in Stuttgart, die die jüdischen Bewohner jetzt räumen mußten.32 Die Gaugeschäftsführung war in diese Vorgänge eingeschaltet und trieb zum Beispiel die Mieten der Reichsvereinigung der Juden an die Schloßbesitzer nach oben.

In Zwangsverkäufe und Korruption verstrickt

Baumert gehörte zum engsten Kreis von Murr und hatte in seiner zentralen und regionalen Steuerungsfunktion als Gaugeschäftsführer sehr viel Macht akkumuliert. Ein Symptom dafür ist, dass Baumert, obwohl er keinerei Bankausbildung genoss, zum ersten Vorsteher (Aufsichtsrat) in ehrenamtlicher Tätigkeit in der Württembergische Landessparkasse in Stuttgart von 1937 bis 1942 aufstieg.33 Auch diese wichtige wirtschaftliche Institution hatte die NSDAP-Gauleitung zielstrebig mit ihren engen Vertrauten besetzt, um die Wirtschaftspolitik und die Zwangsverkäufe von Fabriken jüdischer Inhaber ab 1938 zugunsten von höheren Parteigenossen zu steuern.34 Die Schwäbische Donau-Zeitung erhob im Juli 1947 aufgrund von Insiderwissen schwere Vorwürfe gegen die Landessparkasse unter anderem gegen Helmut Baumert und den Gaupresseleiter Dr. Otto Weiß, der einer der hauptamtlichen Direktoren war.35 In Baumerts Amtszeit fielen hohe Kredite der Landessparkasse in Höhe von insgesamt drei Millionen Reichsmark bei zwölf Zwangsverkäufen von großen Fabrikunternehmen jüdischer Besitzer, die hohe NSDAP-Gaufunktionäre mit diesen Sparkassenkrediten weit unter Wert erwarben.36 Die Kredite waren überhöht, zu sehr günstigen Zinskonditionen vereinbart und zum Teil ungesichert.37 Baumert deckte diese ungesetzlichen Machenschaften.38 Doch damit nicht genug: Baumert bekam wie andere hohe Vorsteher und NS-Spitzenfunktionäre einen Kredit in Höhe von knapp 58.000 RM für sein Haus in Stuttgart-Degerloch.39 Baumert ließ auch die Bibliothek der Landesparkasse unverhältnismäßig reichhaltig ausstatten und bestellte dazu viele Bücher bei seinem früheren und späteren Arbeitgeber, der Buchhandlung Heckenhauer. Geben und Nehmen funktionierte fast reibungslos und blähte die systemimmanente Korruption im Nationalsozialismus, bei Wegfall demokratischer Kontrollmechanismen, weiter auf.

Fanatischer Nationalsozialist kämpft für den "Endsieg"

Mit seinem Gauleiter Murr wollte Baumert im Durchhaltekampf um jeden Preis die Landeshauptstadt Stuttgart im April 1945 gegen die Übermacht der alliierten Truppen verteidigen. Baumert wurde der Anführer40 einer braunen "Werwolf"-Organisation, die bei Kriegsende in den Untergrund abtauchte. In Württemberg existierte neun Monate lang bis zur Aufhebung durch die amerikanischen Militärbehörden die Geheimorganisation "Elsa" mit 160 Mitgliedern, die aus früheren NS-Funktionen, SS-, SD- und Gestapo-Beamten bestand.41 "Elsa" war hier im Gegensatz zu anderen Regionen in Deutschland vor allem eine illegale Hilfsorganisation für untergetauchte Nazis, um Geld, Unterkünfte und falsche Papiere zu besorgen. Ihre Mitglieder bauten darauf, dass ihre Erfahrungen im anbahnenden Kalten Krieg für die Nachrichtendienste noch einmal wichtig werden könnten.

Mildes Spruchkammerurteil

Der untergetauchte Baumert wurde am 30. August 1946 in Oberbayern verhaftet. Man habe ihn "durch Verrat" dorthin gelockt, so der weiter uneinsichtige Baumert im Spruchkammerverfahren.42 Das amerikanische Militär steckte ihn in das Internierungslager Hohenasperg bei Ludwigsburg, in dem viele NS-Funktionäre ihre Haft verbüßten. Baumert gelang am 17. November 194743 eine Verlegung in das Internierungslager Balingen, obwohl er 1945 in Stuttgart gemeldet und seit Juni 1937 nicht mehr in Tübingen tätig war. Zeitgenossen äußerten die naheliegende Vermutung, dass sich Baumert einer härteren Bestrafung durch die amerikanische Militärbehörden entziehen wollte, weil die französische Zone als "Eldorado der Duldsamkeit“44 galt. Baumert sollte Recht behalten: Er wurde am 4. Januar 1949 von der Sonderspruchkammer des Internierungslagers Balingen als "Belasteter" nach einer relativ kurzen Haftzeit von nur zwei Jahren und vier Monaten entlassen. Er durfte zwar fünf Jahre keine politischen Ämter und bestimmte Berufe wie Journalist oder Lehrer mehr ausüben und musste die Kosten des Spruchkammerverfahrens in Höhe von 17.000 DM tragen.45 Eine Einweisung von zwei Jahren in ein Arbeitslager wurde ihn jedoch wegen der "erlittenen Internierungshaft" (so die Spruchkammer) erlassen. Baumert konnte rasch wieder als Buchhändler bei seinem früheren Arbeitgeber Heckenhauer am Tübinger Holzmarkt arbeiten. Diese Kontakte waren in der NS-Zeit nicht abgerissen. Seine alten Tübinger Bekanntschaften halfen ihm bei der Reintegration in die postnazistische Tübinger Stadtgesellschaft. Baumert saß zwar nur zwei Jahre und vier Monate in Untersuchungshaft, doch anscheinend hatte der ehemalige Kreisleiter und württembergische Spitzenfunktionär aus seiner Sicht - und der vieler Tübingerinnen und Tübinger - ausreichend gebüßt angesichts der damals verbreiteten Stimmung des "vorbei und vergessen".46 Helmut Baumert starb am 3. November 1980 in Tübingen.

Einzelnachweise

Mehr
  1. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2628/039, Spruch der Sonderspruchkammer für die Internierten des Lagers Balingen vom 4.3.1949. Diese und die folgenden Information sind - wenn nicht anderes angegeben ist - aus dem Spruchkammerbescheid der Sonderspruchkammer.
  2. BArch: BDC NSDAP-OV 3200/A 0096.
  3. Schönhagen 1991, S. 42.
  4. Schönhagen 1991, S. 42f.
  5. Schlör 1995, S. 196f.
  6. Schönhagen 1991, S. 75f. Die vier Angeklagten kamen mit geringen Gefängnis- und Geldstrafen beim Landgericht Tübingen davon.
  7. Damit ist der Tübinger Wahlkampfauftritt des Prinzen von Preußen ein interessantes Beispiel im aktuellen bizarren Streit des Hauses der Hohenzollern mit der Brandenburgischen Landesregierung und der Bundesregierung um Entschädigung, weil es dabei um die Schlüsselfrage geht, ob dieser Vorfahre erheblich zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen habe.
  8. Schönhagen 1992, S. 266.
  9. Schönhagen 1991, S. 72.
  10. Scholtyseck 1999, S. 477–502.
  11. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2628/039, Spruch der Sonderspruchkammer für die Internierten des Lagers Balingen vom 4.3.1949.
  12. StAL: EL 903/4 Bü. 261, Meldebogen von Helmut Baumert vom 26.6.1947.
  13. StAL: EL 903/4 Bü. 261, Meldebogen von Helmut Baumert vom 26.6.1947.
  14. "Die nationale Beflaggung in Tübingen", in: Tübinger Chronik vom 10.3.1933.
  15. "Unterkommissar Berger und seine Stellvertreter" in: Tübinger Chronik vom 28.3.1933.
  16. Arbogast 1998, S. 11.
  17. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2638/039, Spruch der Sonderspruchkammr vom 4.3.1949.
  18. Geschichtswerkstatt Tübingen 2013, S. 41 ff.
  19. Geschichtswerkstatt Tübingen 2013, S. 25f.
  20. Tübinger Chronik vom 1.4.1933.
  21. Schönhagen 1991, S. 188f.
  22. Schönhagen 1991, S. 198.
  23. "Helle Fanfaren und werbende Trommelwirbel", in: Tübinger Chronik vom 21.10.1935.
  24. "So feierte unser Tübingen den 1. Mai", in: Tübinger Chronik vom 3.5.1937.
  25. Geschichtswerkstatt Tübingen 2012, S.23 ff.
  26. "Amtseinführung und Abschied auf dem Rathaus", in: Tübinger Chronik vom 15.6.1937.
  27. "Amtseinführung und Abschied auf dem Rathaus", in: Tübinger Chronik vom 15.6.1937.
  28. Ulmer 2019, S. 224.
  29. HStAS: E 151/41 Bü. 563.
  30. Weber 1998, S. 121. Die Ablehnung Baumerts dürfte Carlo Schmids Karriere als unbelasteter Staatsrat und führender Sozialdemokrat im frühen Nachkriegsdeutschland sehr genützt haben.
  31. StAL: E 352 Bü. 3782, Brief des Gaugeschäftsführers Baumert an den Grafen Reutner von Weil vom 21.5.1941.
  32. Fröhlich 2019, S. 472 ff.
  33. StAL: EL 903/4 Bü. 261, Meldebogen von Helmut Baumert vom 26.6.1947.
  34. Ulmer 2019, S. 235 ff.
  35. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2628/039.
  36. Ulmer 2019, S. 236 ff.
  37. Ulmer 2019, S. 237; HStAS: E 151/41 Bü. 1327, Schreiben der Ministrialabteilung für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung an die Württ. Landessparkasse vom 19.6.1941.
  38. HStAS: E 151/41 Bü. 1327, Schreiben des Ersten Vorstehers Baumert an die Ministrialabteilung des Innenministeriums für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung vom 25.4.1941, in dem Baumert behauptet, dass der Kredit für das frühere Direktornsmitglied Dr. Weiss ausreichend gesichert sei. Das Ministerium rügte später das korrupte Geschäftsgebaren der Landessparkasse.
  39. HStAS: E 151/41 Bü. 1327, Schreiben der Direktion der Württ. Landessparkasse an die Ministrialabteilung für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung vom 17.1.1941.
  40. Müller 1988, S. 531.
  41. Faltin 2014.
  42. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2628/039, Spruch der Sonderspruchkammer für die Internierten des Lagers Balingen vom 4.3.1949.
  43. StAL: EL 903/4 Bü. 261, Bl. 4.
  44. Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft /Projektgruppe Heimatkunde des Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen 1988, S. 74; Henke 1981, S. 47.
  45. StAS: Wü 13 T 2 Nr. 2628-039, Spruch der Sonderspruchkammer für die Internierten des Lagers Balingen vom 4.3.1949.
  46. Ulmer 2011, S. 47ff.
  1. Arbogast, Christine, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920-1960, München 1998.

  2. Faltin, Thomas, "Hotel Silber in Stuttgart. Deckname: Elsa", in: Stuttgarter Zeitung vom 10. Januar 2014 <stuttgarter-zeitung.de/inhalt.hotel-silber-in-stuttgart-deckname-elsa.efd04cb5-31bf-4aa1-8421-630e4ee189f3.html> (letzter Zugriff: 25.11.2020).

  3. Fröhlich, Roman, "Die Rolle von Ernst Heinkel bei der Enteignung und Deportation von Jüdinnen und Juden
    aus Stuttgart", in: Högerle, Heinz / Müller, Peter / Ulmer, Martin (Hg.), Ausgrenzung, Raub, Vernichtung. NS-
    Akteure und Volksgemeinschaft gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933-1945
    , Stuttgart 2019, S. 471-478.

  4. Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.), Zerstörte Demokratie. Zwangsweise ausgeschiedene Tübinger Stadträte 1933. Eine Dokumentation, Tübingen 2013.

  5. Geschichtswerkstatt Tübingen, Forschungsbericht: Zwangsweise ausgeschiedene Tübinger Stadträte 1933/1934 und deren Verhältnis bzw. Verbindung zum Nationalsozialismus, Tübingen 2012.

  6. Henke, Klaus Dietmar, Politische Säuberung unter französischer Herrschaft, Stuttgart 1981.

  7. Müller, Roland, *Stuttgart in der Zeit des Nationalsozialismus', Stuttgart 1988.

  8. o.N., "Amtseinführung und Abschied auf dem Rathaus", in: Tübinger Chronik vom 15.6.1937.

  9. o.N., "Die nationale Beflaggung in Tübingen", in: Tübinger Chronik vom 10.3.1933.

  10. o.N., "Helle Fanfaren und werbende Trommelwirbel", in: Tübinger Chronik vom 21.10.1935.

  11. o.N., "So feierte unser Tübingen den 1.Mai", in: Tübinger Chronik vom 3.5.1937.

  12. o.N., "Unterkommissar Berger und seine Stellvertreter" in: Tübinger Chronik vom 28.3.1933.

  13. Schlör, Lioba, "'Ich konnte das Gebaren der Nazis nicht stillschweigend ertragen'. Die Vertreibung des Textilhändlers Gustav Lion", in: Geschichtswerkstatt Tübingen (Hg.), Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, Stuttgart 1995, S. 195-1999.

  14. Scholtyseck, Joachim, "'Der Mann aus dem Volk'. Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern", in: Kissener, Michael / Scholtyseck, Joachim (Hg.), Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1999, S. 477–502.

  15. Schönhagen, Benigna, "17 Prominente NS-Redner wandten sich gezielt ans nationale Bürgertum", in: Schönhagen, Benigna (Hg.), Vorbei und Vergessen. Nationalsozialismus in Tübingen. Katalog der Ausstellung, Tübingen 1992, S. 266.

  16. Schönhagen, Benigna, Tübingen untern Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1991.

  17. Ulmer, Martin, "Das Netzwerk der Akteure in der NSDAP, der Bürokratie und den Wirtschaftsunternehmen
    bei der Ausschaltung jüdischer Fabrikanten", in: Högerle, Heinz / Müller, Peter / Ulmer, Martin (Hg.), Ausgrenzung, Raub, Vernichtung. NS-Akteure und Volksgemeinschaft gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933-1945, Stuttgart 2019, S. 219-250.

  18. Ulmer, Martin, "Verdrängte Verbrechen und gefallene Helden. Wie sich Tübingen in den 1950er und 60er Jahren an den Nationalsozialismus erinnerte", in: Binder, Hans-Otto / Ulmer, Martin / Rathe, Daniela / Röck, Uta (Hg.), Vom braunen Hemd zur weißen Weste? Vom Umgang mit der Vergangenheit in Tübingen nach 1945, Tübingen 2011.

  19. Utz Jeggle / Projektgruppe "Heimatkunde des Nationalsozialismus" des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen (Hg.), Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen. Eine Heimatkunde, Tübingen 1988, S. 74.

  20. Weber, Petra, Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biografie, Frankfurt am Main 1998.

  1. Bundesarchiv (BArch): BDC NSDAP-OV 3200/A 0096.

  2. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS): E 151/41 (Innenministerium, Abt. IV: Kommunalangelegenheiten) Bü. 563a zu 562. Festsetzung der Haushaltssatzung
    Einzelfälle nach Oberämtern und Gemeinden
    Oberamt Esslingen, Stadt Esslingen am Neckar.

  3. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS): E 151/41 (Innenministerium, Abt. IV: Kommunalangelegenheiten) Bü. 1327. Württembergische Landessparkasse, Bd. IV.

  4. Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL): E 352 Bü. 3782.

  5. Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL): EL 903/4 (Spruchkammer der Interniertenlager: Verfahrensakten des Lagers 76, Hohenasperg) Bü. 261. Baumert, Helmut aus Stuttgart-Degerloch S (Buchhändler, NSDAP-Kreisleiter Tübingen, NSDAP-Gaugeschäftsführer Württemberg-Hohenzollern, Reichstagsabgeordneter) geb. am 15. Juni 1909 in Osnabrück gest. am 3. November 1980.

  6. Staatsarchiv Sigmaringen (StAS): Wü 13 T 2 (Staatskommissariat für die politische Säuberung) Nr. 2628/039. Baumert, Helmut aus Osnabrück (Geburtsort); Tübingen
    geb. am 15. Juni 1909 gest. am 3. November 1980.