Langbiografie

Gottlob Berger

Der mörderische „Schwabenherzog“

März 1919, die geschlagenen Soldaten des früheren Kaiserreichs sind in die Heimat zurückgekehrt. Für viele von ihnen ist das Elend im Schützengraben, sind ihre körperlichen und seelischen Verwundungen durch die militärische Niederlage entwertet worden: Die Schuld dafür geben sie der jungen Republik und deshalb schließen sie sich in paramilitärischen Freikorps zusammen, um Streiks und linke Aufstände niederzuschlagen sowie ganz allgemein die als „Judenrepublik“ geschmähte Demokratie zu bekämpfen. Einer von ihnen ist der damals 22-jährige Gottlob Berger aus Gerstetten auf der Ostalb. Er wird, obwohl er nie in Tübingen wohnt, einen erheblichen Anteil am Aufstieg der Tübinger NSDAP und der Errichtung der Nazidiktatur in Tübingen und Umgebung haben.1

Gottlob Bergers Familie gehörte zur wohlhabenden Oberschicht auf der damals armen Ostalb, sein Vater war Sägewerksbesitzer.2 Im August 1914 hat Gottlob Berger sein Studium am Lehrerseminar Nürtingen unterbrochen und sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Er bleibt vier Jahre „im Felde“, wird verwundet, mehrfach dekoriert und beendet seine Militärlaufbahn als Offizier.3 Seit 1920 arbeitet er als Lehrer, im Jahr darauf belegt er Kurse an der Sportakademie Tübingen und erwirbt damit die Lehrberechtigung für den Sportunterricht an Höheren Schulen; ab 1928 ist er Schulvorstand (Hauptlehrer) an der Versuchs-Volksschule Wankheim bei Tübingen, mit Frau und drei Kindern bezieht er das Haus Nr. 50.4

Aufstieg und Karriereknick in NSDAP und SA

Beruflich hat Gottlob Berger ins zivile Leben zurückgefunden, der Hass auf die junge Republik und die „Novemberverbrecher“ lässt ihn nicht los: 1922 (oder 1923 – das ist nicht mehr rekonstruierbar) tritt er der NSDAP bei und gründet einen „Wehrverband Ulm-Land“.5 Nach dem gescheiterten Hitlerputsch am 8. und 9. November 1923 und dem Verbot der NSDAP tritt er wieder aus, vermutlich um seine berufliche Stellung nicht zu gefährden. Seine Einstellung hat sich aber nicht geändert: Am 1. Januar 1931 tritt er wieder in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer 426.875, fortan gilt er als „Alter Kämpfer“).6

Bereits 1930 ist er der SA beigetreten, 1931 wird er Führer des SA-Sturms 10 Tübingen, der aggressiv auftritt: Bergers Leute stören Veranstaltungen linker Organisationen und veranstalten „Werbemärsche“ (genauer: Einschüchterungsmärsche) im „roten Steinlachtal“ zum Beispiel am 7. Mai 1931 von Tübingen über Derendingen und Dusslingen zurück nach Tübingen. Dem Tübinger Polizeidirektor, der das Verhalten der SA-Leute beanstandet, antwortet Berger schriftlich „mit deutschem Gruß“.7

Danach steigt Berger rasch auf: Er wird 1931 zum „Oberführer“ einer SA-Kompanie ernannt8 ,und im Juli 1932 zum Oberführer der SA-Untergruppe Württemberg.9 Nach dem 30. Januar 1933 wird die SA als Hilfspolizei rekrutiert, Berger erhält damit staatliche Befugnisse für Teile Württembergs – vor allem, nachdem er vom 31. März bis 20. Mai unmittelbar dem württembergischen Innenminister Wilhelm Murr (seit 1928 NSDAP-Gauleiter) als „ehrenamtlicher Sonderkommissar“ untersteht: In dieser Funktion unterzeichnet Berger Haftbefehle für mehrere Mitglieder linker Parteien in Tübingen, die danach zur „Schutzhaft“ ins KZ Heuberg verschleppt werden.10

Kurz danach erfährt Bergers parteiinterne Karriere einen vorübergehenden Knick: Er überwirft sich mit Murr und zieht sich (unfreiwillig) von seinen SA-Ämtern zurück, dafür geht sein Erfolgskurs jetzt auf staatlicher Ebene weiter. Im gleichen Jahr 1933 erhält er eine Stelle als Schulleiter in Stuttgart; die gibt er 1935 auf und wechselt ins württembergische Kultministerium, wo er im Oktober 1936 als Oberregierungsrat zum Referenten für Leibeserziehung ernannt wird; gleichzeitig ist er Direktor der württembergischen Landesturnanstalt.11 Danach beginnt seine dritte Karriere, diesmal als getreuer Helfer Heinrich Himmlers.

„SS1“ und „SS2“

Am 30. Januar 1936, dem dritten Jahrestag der „Machtergreifung“, tritt Berger der (Allgemeinen) SS bei (Nr. 275.991). Er wird sogleich wieder Oberführer, organisiert die Leibeserziehung der SS und gerät damit ins persönliche Umfeld Himmlers. Der betraut Berger zusätzlich mit der Nachwuchswerbung und bald danach mit weiteren organisatorischen Aufgaben.12 Himmlers Pkw hat das Kennzeichen „SS1“, Bergers Auto die „SS2“. Sein enges Verhältnis zu Himmler trägt ihm die Spitznamen „der allmächtige Gottlob“ und „der Schwabenherzog“ ein.13

Als Chef des SS-Ergänzungsamtes im SS-Hauptamt ist Berger seit 1938 zuständig für die SS-Totenkopfverbände (die Bewacher der KZs) und die SS-Verfügungstruppe; aus beiden geht zusammen mit der „Leibstandarte Adolf Hitler“ die Waffen-SS hervor. Berger gilt als der „eigentliche Begründer der Waffen-SS“14 , die im Krieg eine Blutspur durch Europa ziehen wird. Bald wird er sich an den Verbrechen des Holocaust schuldig machen.

  • Am 1. April 1940 wird er zum Chef des SS-Hauptamtes befördert; er ist mit der Rekrutierung von Freiwilligen für die Waffen-SS betraut.15 Kurz darauf ist er SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS.
  • Ab 1. April 1943 ist Berger Verbindungsmann Himmlers im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete unter Alfred Rosenberg.16
  • Am 4. Oktober 1943 gehört er zu den Zuhörern von Himmlers berüchtigter Rede in Posen, bei der Himmler offen über die „Ausrottung des jüdischen Volkes“ spricht.17
  • 1944 ist er mitverantwortlich für die „Heu-Aktion“, die Verschleppung von 30.000 bis 50.000 Kindern aus Osteuropa als Zwangsarbeiter:innen in das Deutsche Reich.18
  • Im gleichen Jahr ist er als Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) und „Deutscher Befehlshaber“ an der Niederschlagung des Slowakischen Nationalaufstands beteiligt.19
  • Ende September 1944 wird Berger Stabsführer des „Volkssturms“.20
  • Anfang Oktober 1944 ist er „Generalinspekteur für das Kriegsgefangenenwesen“.21
  • Im Frühjahr 1945 wird Berger „militärischer Bevollmächtigter des Führers“ für Bayern; ein letztes Mal begegnet er Hitler am 22. April 1945 im „Führerbunker“.22

Einmal Bosch, immer Bosch

Am 8. Mai 1945 wird Berger durch ein französisches Kommando gefangengenommen und danach in London, Nürnberg und Dachau interniert; der Liste seiner Verbrechen zufolge müsste ihn das Todesurteil erwarten. Allerdings hatte Berger bereits vor Kriegsende für „die Zeit danach“ vorgesorgt.

Bergers Vater war Jagdfreund von Robert Bosch gewesen, daher kennt Berger den Bosch-Manager Albrecht Fischer. Als der nach dem 20. Juli 1944 verhaftet wurde, hatte Berger sich für dessen Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen eingesetzt, angeblich durch persönliche Vorsprache bei Hitler. Das hatte der brutale Gewaltmensch Berger vermutlich nicht aus Menschenliebe getan, sondern in Erwartung späterer Gegenleistungen. Tatsächlich zahlt sich die Nähe zur Firma Bosch nach Kriegsende für ihn aus.23

In den ersten Tagen nach der Kapitulation hatte er sich bezeichnenderweise in einem Jagdhaus der Firma Bosch im Tannheimer Tal verborgen, im Wilhelmstraßenprozess gegen eine Reihe von Kriegsverbrechern (6. Januar 1948 bis 18. November 1948) übernimmt die Firma Bosch den Großteil seiner Prozesskosten.24 Einer seiner Entlastungszeugen ist der spätere Tübinger Oberbürgermeister Hans Gmelin – beide kennen sich vermutlich von der Niederschlagung des Slowakischen Nationalaufstands im Herbst 1944 her.

Für Berger setzt sich im Prozess auch der US-amerikanische Colonel Delmar Taft Spivey ein – Berger hatte als „Generalinspekteur für das Kriegsgefangenenwesen“ dafür gesorgt, dass mehrere hochrangige US-Gefangene am 3. April 1945 in die Schweiz entlassen wurden25 , vermutlich aus den gleichen Motiven, aus denen er Albrecht Fischer geholfen hatte. Nach Ansicht von Wolfgang Sannwald „rettet er [Spivey] wohl den Leiter des SS-Hauptamts vor dem Galgen“.26 Am 13. April 1949 wird Berger (nur) zu 25 Jahren Haft verurteilt – immerhin das höchstmögliche Strafmaß unter den zwölf Angeklagten – und ins Kriegsverbrechergefängnis Landsberg eingeliefert.27 Dort verfasst er allerhand Gnadengesuche, bald mit Erfolg: Am 31. Januar 1951 reduziert der Hohe Kommissar John Jay McCloy die Strafe auf zehn Jahre, am 15. Dezember 1951 wird Gottlob Berger entlassen – u.a. wegen guter Führung. Reue über seine Verbrechen hat er nicht gezeigt.28

Die Firma Bosch hält dennoch weiter ihre schützende Hand über ihn. Sie vermittelt ihm eine Stelle als Gebäude- und Maschinenverwalter bei der Stuttgarter Zeitung, 1953 ist er bei einer Fabrik für Vorhangschienen in Musberg (Kreis Böblingen) beschäftigt.29 Bosch unterstützt ihn auch finanziell, zum Beispiel beim Verfassen seiner Lebenserinnerungen, und leistet ihm außerdem juristischen Beistand als er eine Pension für seine Zeit als Lehrer bis 1933 erstreitet.30

Nach seiner Pensionierung Ende 1964 zieht sich Berger zurück an seinen Geburtsort Gerstetten. Der Verfassungsschutz kontrollierte seine Post: Seiner Nazi-Überzeugung bleibt Gottlob Berger nämlich bis zu seinem Tod im Robert-Bosch-Krankenhaus 1975 treu.31

Einzelnachweise

Mehr
  1. Die wichtigsten Informationen verdanke ich der lesenswerten Veröffentlichung des Tübinger Kreisarchivars Wolfgang Sannwald: Sannwald, Wolfgang, NS-Getreue in der Provinz. Gomaringen zwischen Weimar und Bonn und SS-General Gottlob Berger, Gomaringen 2021.
  2. Scholtyseck, Joachim, Der 'Schwabenherzog' Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer, in: Kißener, Michael, Scholtyseck, Joachim (Hg.), Die Führer der Provinz: NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 77–110.
  3. Sannwald 2021, S. 7.
  4. Ebd., S. 13.
  5. Scholtysek 1997, S. 80.
  6. Sannwald 2021, S. 13.
  7. SAT E 104/68.
  8. Scholtysek 1997, S. 81.
  9. Sannwald 2021, S. 14.
  10. Ebd., S. 21.
  11. Ebd., S. 15.
  12. Ebd.
  13. Ebd., S. 16.
  14. Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Gütersloh 1967, zit. nach Scholtysek 1997, S. 78.
  15. Scholtysek 1997.
  16. Ebd.
  17. Ebd.
  18. Ebd.
  19. Ebd.
  20. Ebd.
  21. Ebd.
  22. Ebd.
  23. Sannwald 2021, S. 18.
  24. Ebd.
  25. Ebd.
  26. Ebd., S. 131.
  27. Ebd., S. 132.
  28. Ebd., S.134.
  29. Ebd., S. 139.
  30. Ebd.
  31. Ebd., S. 140.
  1. Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Gütersloh 1967.

  2. Sannwald, Wolfgang, NS-Getreue in der Provinz. Gomaringen zwischen Weimar und Bonn und SS-General Gottlob Berger, Gomaringen 2021.

  3. Scholtyseck, Joachim, "Der 'Schwabenherzog' Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer", in: Kißener, Michael, Scholtyseck, Joachim (Hg.), Die Führer der Provinz: NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997, S. 77–110.

  4. Schönhagen, Benigna, Tübingen unterm Hakenkreuz: Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Tübingen 1991.

  1. Stadtarchiv Tübingen: E 104/68. Polizeiakten „Öffentliche Ordnung, Sicherheit und Sittlichkeit“.