Kurzbiografie

Gerhard Kittel

Gerhard Kittel, Sohn des namhaften Alttestamentlers Rudolf Kittel (1853-1929), studierte von 1907 bis 1912 Theologie und Orientalistik in Leipzig, Tübingen, Berlin und Halle. Anschließend promovierte und habilitierte er sich 1913 in Kiel. Während des Ersten Weltkriegs unterbrach er die universitäre Karriere und war Marinefeldgeistlicher in Cuxhaven. Nach seiner ersten Professur für den Fachbereich Neues Testament in Greifswald wurde er 1926 nach Tübingen berufen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat Gerhard Kittel am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein und wurde Mitglied im Führerrat der Universität Tübingen.
1933 begann Gerhard Kittel das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ herauszugeben, das im Zentrum seines wissenschaftlichen Wirkens stand. Die ersten vier Bände erschienen unter seiner Leitung bis 1942. Die Bücher wurden von Student:innen der Theologie bis 1979 verwendet. Später gab es kontroverse Diskussionen über den Antijudaismus und Antisemitismus in Kittels Werk. Mit dem Buch „Die Judenfrage“, das Gerhard Kittel 1933 veröffentlichte, beteiligte er sich an der nationalsozialistischen Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. In der Schrift beklagt er die angebliche „Durchsetzung des deutschen Volkskörpers mit zahllosen Mischlingen“ seit der Judenemanzipation im 18. Jahrhundert in Deutschland. Zudem schreibt er: „Mischehen mit Juden, wenn sie nicht radikal verboten werden, müssen in Zukunft in unerbittlicher Konsequenz haben“. Als Lösung der „Judenfrage“ kommt für ihn nur das Dulden der jüdischen Bevölkerung als „Fremdlingschaft“ in Frage. Seine antisemitischen Aussagen versucht er vermeintlich wissenschaftlich zu begründen. Gerhard Kittel wurde 1936 als Sachverständiger an das Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands berufen, welches für den Kampf gegen jüdische Kinder, Frauen und Männer auf rassisch-biologischer Grundlage zuständig war. In der Abteilung Judenforschung des Reichsinstituts fertigte er Gutachten an, die als ideologische Grundlage für die Ermordung des jüdischen Volkes dienten. Im Jahr 1945 wurde er von der französischen Besatzungsmacht inhaftiert und des Amtes enthoben. Gerhard Kittel hatte 1946 eine Rechtfertigung der NS-Verbrechen mit dem Titel „Meine Verteidigung“ verfasst. Im selben Jahr wurde er freigelassen und hatte bis 1948 ein Aufenthaltsverbot in Tübingen. Das gegen ihn eröffnete Entnazifizierungsverfahren konnte nicht zu Ende gebracht werden, da er noch im selben Jahr verstarb. Gerhard Kittel gilt als Hauptfigur des sogenannten wissenschaftlichen Antisemitismus der Universität Tübingen. Durch seine Schriften, Vorträge und Gutachten zur Diskriminierung und Verfolgung der Juden gilt er auch als theologischer Schreibtischtäter.

  1. Bormann, Lukas: „Gerhard Kittel“, in: Deutsche Biographie vom 01.10.2022, https://www.deutsche-biographie.de/pnd118562592.html (letzter Zugriff 13.09.2023).

  2. Gailus, Manfred, „Nationalsozialismus. Ein Theologe als geistiger Mittäter“, in: Tagesspiegel vom 08.11.2020. https://www.tagesspiegel.de/wissen/ein-theologe-als-geistiger-mittater-7677103.html (letzter Zugriff: 13.09.2023).

  3. Gailus, Manfred, Vollnhals, Clemens (Hg.), Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und "Judenforscher" Gerhard Kittel, Göttingen 2020.

  4. Junginger, Horst, „Antisemitismus in Theorie und Praxis. Tübingen als Zentrum der nationalsozialistischen „Judenforschung““, in: Wiesing, Urban, Brintzinger, Klaus-Rainer, Grün, Bernd, Junginger, Horst, Michl, Susanne (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 483–558.

  5. Kittel, Gerhard, Die Judenfrage, Stuttgart 1934.

  6. Rieger, Reinhold, „Die Entwicklung der Evangelischen-theologischen Fakultät im „Dritten Reich"“, in: Wiesing, Urban, Brintzinger, Klaus-Rainer, Grün, Bernd, Junginger, Horst, Michl, Susanne (Hg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 483–558.